Sprachenlernen: Von persönlichen Zielen und der Kraft der Emotionen
Viele Menschen wünschen sich, eine Fremdsprache fließend zu sprechen. Was oft weniger deutlich wird, ist, was sie unter "fließend" verstehen. Ein Beispiel: Nach einem einjährigen Au-Pair-Aufenthalt in Frankreich konnte ich mich mit anderen Jugendlichen in meinem Alter flüssig verständigen. Ich hatte die Jugendsprache der Franzosen gelernt. Konnte ich Bücher lesen? Nein. Ich hatte das Vokabular nicht, das ich zum Bücherlesen brauchte, hatte es nie geübt. Insofern ja, war ich fließend, aber auch stark eingeschränkt, da ich in vielen Bereichen nicht agieren konnte. Im Beruf und in tiefergehenden Diskussionen zu Gesellschaft, Geschichte, Kunst und Literatur konnte ich einfach nicht mithalten.
Was wollen Sie mit der Sprache tun?
Eine nützliche Frage ist daher: Was wollen Sie mit der Sprache tun? Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, können Sie Ihr Lernen darauf ausrichten. Sie wählen die Themen und Aktivitäten dementsprechend aus.
Als ich begonnen habe, Italienisch zu lernen, war es mir zum Beispiel weniger wichtig, lebhafte Gespräche zu führen. Vielmehr wollte ich das geschriebene Wort in Zeitungen, Büchern und Museen vor Ort verstehen. Konkret hieß das für mich: die Grammatik auf B2-Niveau zu beherrschen und 5000 Wörter und Wendungen zu können. Damit kommt man in meiner Erfahrung mit den meisten Texten gut zurecht.
Konkrete Ziele können also helfen. Zumindest als Richtungsweiser. Wissen Sie, wohin Sie wollen? Was ist erstrebenswert für Sie? Was ist für Sie Erfolg beim Erlernen ihrer gewählten Sprache?
Trauen Sie sich, das selbst zu bestimmen. Viele Menschen glauben, so vorgehen zu müssen wie im Fremdsprachenunterricht an der Schule. Sie lernen, was der Kurs so vorgibt: Wegbeschreibungen und Wortwechsel im Restaurant, Kartenkäufe im Museum und Aussagen zur britischen Monarchie. Das ist schön und gut, wenn das Dinge sind, die Sie in der Zielsprache interessieren. Es ist jedoch weniger sinnvoll, wenn Sie keine Lust haben, London auf einem Kurztrip zu erkunden und Alltagsgespräche dieser Art zu führen. Also: Wenn Sie beim Sprachenlernen den gewohnten Pfaden folgen, führt dies oft zu unnötigen Frustrationen und vorzeitigen Lernabbrüchen! Ich weiß das, denn ich habe mich lange Zeit auf diese Weise gequält. Ich habe mich oft gefragt, was ich tun sollte und wie ich es tun sollte. Die schulische Herangehensweise war tief in mir verankert.
Hier ist der Weg nach vorn: Sie entscheiden selbst, was Sie lernen wollen! Spüren Sie in sich hinein. Was motiviert Sie? Welche Ziele und Aktivitäten lösen Freude oder Erregung in Ihnen aus? Was setzt Energie in Ihnen frei? Wenn Sie auf die anstehende Lektion in Ihrem Sprachkurs schauen, was spüren Sie da? Ist es Lust und Neugier oder Entmutigung und Last? Nehmen Sie diese inneren Regungen wahr und nutzen Sie sie, um zu entscheiden, mit welchen Inhalten und Materialien Sie sich beschäftigen wollen.
Vielleicht haben Sie keine Lust, Lektion 32 im Langenscheidt-Sprachkurs anzugehen! Vielleicht beschwingt Sie der Gedanke, einen Artikel in einer englischen Klatschzeitschrift zu lesen oder ein YouTube-Video zur Geschichte des japanischen Sumo-Ringens zu sehen. Vielleicht wollen Sie ein Kochbuch, eine Sammlung von Sprichwörtern oder einen Comic durchstöbern. "Whatever floats your boat" würde der Engländer sagen. Seien Sie kreativ und stellen Sie sich die Materialien zusammen, die etwas Positives in Ihnen auslösen.
Als ich mich intensiv mit Italienisch beschäftigt habe, habe ich Babbel genutzt. Nachdem ich zur Einführung einige Basislektionen gemacht hatte, habe ich mir die Lektionen ausgesucht, die mir zusagten und andere ausgelassen. Ich ließ mich von der Neugier leiten und vom Ziel, die 5000 Vokabeln zu sammeln, um die meisten Texte zu verstehen. Dabei bin ich nicht systematisch vorgegangen. Ich habe in mich reingehört und mich gefragt, was jetzt Freude in mir auslösen würde. Dann habe ich aus all den Quellen geschöpft, die mich inspirierten und einfach drauflosgesammelt: Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, Kreuzworträtsel, Themenwortschätze, Disney-Filme (ja, die kleine Meerjungfrau!) und Serien (Breaking Bad und Dexter) in der italienischen Tonfassung. Manchmal habe ich das Wörterbuch aufgemacht, zufällig eine Seite aufgeblättert und mir die Wörter rausgesucht, die ich schön oder lustig fand. Das hat viel Spaß gemacht! Das Ganze hat dazu geführt, dass ich hochmotiviert war, weil ich immer etwas Spannendes oder Anregendes zu tun hatte. Ich habe regelmäßig gelernt und innerhalb kurzer Zeit den Wortschatz geschafft, den ich schaffen wollte.
Hier noch einmal die Fragen auf einen Blick
- Was wollen Sie mit der Sprache tun?
- Was ist erstrebenswert für Sie?
- Wie sieht für Sie Erfolg beim Erlernen der Sprache aus?
- Was motiviert Sie?
- Welche Ziele lösen Freude oder Erregung in Ihnen aus? Bei welchen Zielen spüren Sie Energie und Tatendrang?
- Welche Aktivitäten und Materialien lösen Freude und Erregung in Ihnen aus? Bei welchen Aktivitäten spüren Sie Energie und Tatendrang?
Wie ist es bei Ihnen? Was hilft Ihnen, beim Sprachenlernen motiviert zu bleiben? Schreiben Sie mir gern! Ich freue mich auf Ihre Rückmeldungen!
Nadine Seiler, September 2022
Nadine Seiler
Ich bin Sprachtrainerin für die psychosoziale Beratung auf Englisch sowie Herausgeberin und Autorin von Sprachführern zur professionellen Beratung auf Englisch, u.a. "Helfende Gespräche auf Englisch. Der umfassende Sprachführer für psychosoziale und pädagogische Arbeitsfelder".